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Quelle: Publik-Forum Nr. 22 2007, Veröffentlichung erfolgt hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Von Annette Lübbers
Die Titel ihrer Bücher sind mehrdeutig und provokant: "Rahels Rache", "Der defekte Messias", "Ermordete Kinder und andere Geschichten von Gottes Unmoral" und "Blinden-Blick. Reisen in das beschädigte Leben". Die Schriftstellerin Susanne Krahe verarbeitet in ihren Werken vornehmlich Themen mit biblischem Hintergrund. Nichts Ungewöhnliches für eine evangelische Theologin. Und sie beschäftigt sich mit Leid, mit Ausgrenzung und Verlusterfahrung. Auch das scheint erst einmal nicht zu überraschen, doch: Die 48-Jährige ist blind. Reduzieren auf ihren Mangel lässt sich die streitbare Autorin allerdings nicht: "Gerade wir Blinden, Lahmen und Schwachsinnigen repräsentieren ein Stück menschlicher Wirklichkeit, die bekanntlich aus Licht und Schatten besteht." Und: "Traditionell werden Kranke und Behinderte der pathologischen Seite von Theologie und Kirche zugeordnet. Aber sind wir ausschließlich Elendsthema? Ich halte das für eine Verkürzung", erklärte Susanne Krahe in einem Kommentar des Magazins Zeitzeichen.
Dreißig Jahre ist die im westfälischen Unna lebende Autorin, als sie ihr Augenlicht verliert. "Auch durch eigenes Verschulden", meint sie im Nachhinein selbstkritisch."Ich bin mit meiner Jugenddiabetes nicht vernünftig umgegangen." Kurz nach Abschluss ihres Studiums blickt sie hinunter auf die Bucht von San Francisco, und sie ahnt, dass sie diese grandiosen Bilder ganz tief in sich aufnehmen und festhalten muss. Sie weiß um die Schatten an der Wand. "Damals war ich bereits am Grauen Star operiert worden. Ich hatte Netzhautblutungen. Ich kannte die Warnzeichen." 1989 ist es so weit: Susanne Krahe verliert ihr Augenlicht und im Anschluss an diese einschneidende Erfahrung fast ihr Leben. Eine Niere wird transplantiert, eine fremde Bauchspeicheldrüse eingepflanzt.
Die berühmte Frage "Warum ich?" hat sich die Theologin nie gestellt. "Das ist eine uralte Frage der Menschheit. Schon die Psalmisten klagten vor Gott: Warum? Eine Antwort darauf haben sie nicht erhalten und ich auch nicht. Die Frage ist absurd. Gott ist nicht zu berechnen, und wir müssen lernen, dass er nicht jedem gnädig ist. Unser Gott ist ein wählerischer Gott", sagt sie mit einem Lächeln, in dem keine Bitterkeit zu erkennen ist.
Mit dem Verlust ihres Augenlichts muss die Theologin aus Leidenschaft ihre wissenschaftliche Karriere an den Nagel hängen. "Ich wollte mich stattdessen konzentrieren auf das, was ich am besten kann. Und neben der Theologie hatte ich immer schon eine starke Affinität zur Schriftstellerei. Heute verwandele ich Theologie in Literatur. Eine Brücke sozusagen zwischen meinem ersten und meinem zweiten Leben." Sie verfremdet biblische Motive und drückt sie in Bildern aus, die die grundlegenden Lebenserfahrungen moderner Menschen widerspiegeln. Susanne Krahe will nicht alte Texte reproduzieren, sie will in literarischen Textformen und in dichterischer "Freiheit und Frechheit" das "Alte" neu erzählen. "Dahinter steht die Überzeugung, dass Sprache transzendent ist und weit über ein enges, dem Historismus verhaftetes Kommunikationsmodell hinaus Wahrheit, Erkenntnis und Anteilnahme vermittelt. Literarische Exegese relativiert die historische Wahrheit zugunsten der Aktualität biblischer Texte." Beispiel: "Rahels Rache - Biblische Provokationen". Susanne Krahe erzählt die Geschichte der "Opferung des Isaak" in drastischen Bildern. "Gott? Isaak fragte das nicht. Gott? Der heilige Name entleerte sich über das Gesicht des Kindes und floss über die stummen, fraglos geschlossenen Lippen." Und der Engel erzählt seine Heldentat bei der Rettung des Isaak: "Der Engel schüttelte sich. In launiger Stimmung berichtete er dann, wie er durch die Wolken gebrochen war, um den allzu gottesfürchtigen Abraham zur Räson zu rufen." In Susanne Krahes Neu-Erzählungen bekommen die biblischen Figuren Kontur und Persönlichkeit, und die Ich-Erzähler zeigen selten Ehrfurcht vor den Gewaltigen ihrer Zeit: "'Ich abersageeuch', lehrte er uns. Die Alten mögen diese und jene Weisheit von sich gegeben haben, 'ichabersageeuch'. Welches Selbstbewusstsein! Es störte mich auch seine Pose, jener unvermeidliche Schneidersitz des Gurus, der mit spitzen Knien seine Jünger berührte, so dicht hingen ihm alle auf der Pelle." Ungewohnt drastische Formulierungen für eine Frau, die im Gespräch eher die leisen Töne bevorzugt. Susanne Krahe lacht: "Meine Provokationslust fließt in meine Bücher. In meiner Sprache bin ich eher vorsichtiger geworden!"
Neben der Theologie bietet auch der Alltag genügend Material für Erzählungen und Hörspiele. Für die Hörspiel-Figur "Lisabetha" erhielt sie 2001 den Robert-Geisendörfer-Preis der evangelischen Kirche. Hauptdarstellerin ist eine 97-jährige Witwe, die sich wütend gegen eine Gesellschaft zur Wehr setzt, die für alte Menschen keinen Respekt mehr aufzubringen vermag. "Meine nicht-biblischen Figuren entwickeln sich, indem ich den Menschen zuhöre. Dafür ist das Blindsein sogar von Vorteil. Die übliche erste Einordnung von Menschen anhand von Äußerlichkeiten findet bei mir nicht mehr statt. Davon bin ich befreit und die Menschen, die mit mir umgehen, auch." Lisabetha hat durchaus ein reales Vorbild. "Ich habe in meinem Leben viel Zeit in Krankenhäusern verbracht, und dabei habe ich eine über 90-jährige Dame mit Ecken und Kanten kennengelernt, mit der ich mich gut verstanden habe. Dennoch muss man trotz realer Vorbilder auch viel Fantasie investieren, damit eine Figur lebendig wird." Oft sind ihre Hauptdarsteller Außenseiter in der Gesellschaft, eine Position, in der sie sich auch selbst oft genug wiederfindet. "Mitten in der Gesellschaft bewege ich mich nicht - aber ich fühle mich wohl an ihrem Rande."
"Heute verwandle ich Theologie in Literatur. Eine Brücke sozusagen zwischen meinem ersten und meinem zweiten Leben."
Ihr Computer mit Spracherkennung und Lese-Software ermöglicht ihr eine Form der Kommunikation, die es für blinde Menschen so bisher nicht gab. Selbstständig kann sie E-Mails empfangen, der Computer liest ihr die Inhalte vor. Die gut gefüllten Bücherregale in ihrer geräumigen, behindertengerecht eingerichteten Wohnung zeugen nicht nur von einem vergangenen Leben. Susanne Krahe weiß noch immer, wo was steht. Und ein Assistent scannt für sie wichtige Texte ein. Dennoch muss die Schriftstellerin auf aufwändigere Recherchen verzichten. "Ich habe gelernt, dass ich wählerisch sein muss mit der Sekundärliteratur, die ich für meine Bücher verwende." Langsamer ist ihr Leben ohnehin geworden. "Mit der Spontaneität, die mein früheres Leben kennzeichnete, ist es vorbei", sagt sie.
Susanne Krahe leidet nicht mehr an ihrer Behinderung - aber sie ärgert sich. Etwa über die Bedienung in einer Bäckerei, die zu ihrer Begleitung sagt: "Was möchte sie?" Als könne eine blinde Frau ihre Wünsche nicht selbst artikulieren. Und sie ärgert sich über manch einen Theologen, der es eigentlich besser wissen müsste. "Manche meiner Kollegen leben auf einem Tablett der Seligen. Sie blenden gerne aus, was eigentlich ein ureigenes biblisches Thema ist: Die Versehrtheit der Menschen hat eine hohe theologische Qualität. Aber sich einen spastisch gelähmten Messias vorzustellen, das gilt einfach als ein an stößiges Bild", sagt sie und erinnert sich an so manche Begegnungen im theologischen Umfeld, bei denen sie im buchstäblichen Sinne an den Rand gedrückt wurde. "Ich werde gemieden in diesen Kreisen." Kein Wunder, dass manche ihrer Figuren einen Talar tragen. Da ist der Pfarrer, der einem Mann mit einer Oberschenkelamputation hilflos plappernd erklärt, er habe zwar sein Bein verloren, aber doch nicht seine Seele. Freimütig redet Susanne Krahe auch über ihre eigenen Wunden, die sie davongetragen hat. "Von meinen Freunden unter den ehemaligen Kommilitonen ist mir niemand geblieben. Vielleicht habe ich diese Beziehungen auch einfach überschätzt."
Trotz ihrer Blindheit versucht Susanne Krahe, das Leben in all seinen Facetten zu leben. Dazu gehört nach wie vor das Einlassen auf neue Horizonte, auch wenn sie diese nicht mehr mit den Augen wahrnehmen kann. "Das Bedürfnis nach einem Ortswechsel ist noch immer da. Ich genieße die andere Luft, die fremden Sprachen. Ich kann das Meer spüren, und es entstehen Bilder in meinem Kopf. Andere Bilder, die früher so nicht entstanden wären." Susanne Krahe ist zufrieden in ihrem neuen Leben. "Ich habe gelernt, ja zu sagen zum Beschädigten und Unvollkommenen. Meine Wertewelt hat sich verändert. Und je älter ich werde, desto neugieriger werde ich auf das Danach. Heute fühle ich mehr denn je, dass da etwas auf mich wartet. Für den Moment bin ich dankbar für mein fragmentarisches Leben", sagt sie. Obwohl sie sich manchmal wünscht, dass eine Fee käme und sie für wenige Augenblicke wieder sehen könnte. "Ich würde gerne wissen, ob die Menschen, die ich als blinde Frau kennengelernt habe, dem Bild entsprechen, das ich mir von ihnen gemacht habe."