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Rahels Rache
Biblische Provokationen

Mit einem Vorwort von Gert Otto. Broschur, ca. 160 Seiten, ca. DM 24,80 / öS 181,- / sFr 24,10. Erscheint im September. ISBN 3-7975-0006-8 Zu bestellen bei der Autorin

Werbetext

Susanne Krahe versucht Literatur und Theologie (Exegese) miteinander zu verbinden. Beide bieten die Möglichkeit, Leben zu erfahren und zu deuten. Und beide haben mit derselben Wirklichkeit zu tun. Mit ihren Verfremdungen biblischer Motive, in denen sie die elementaren Lebenserfahrungen heutiger Menschen zur Sprache bringt, trifft die virtuose Erzählerin das Lebensgefühl von Menschen, die sich den Daseinsfragen nicht verschließen, aber den herkömmlichen Verkündigungsformen und dogmatischen Antworten der Kirche nicht mehr trauen. Die in diesem Band vorliegenden literarischen Exegesen bieten einen Querschnitt durch das Alte und das Neue Testament.

Aus dem Inhalt: Dein Opfer, Vater, Die Ferse, Gerücht über Saul, Rahels Rache, Vom Nageln, Prisca, Der letzte Stein, Jericho, Der verlorene Sohn, Schalksknechte, Der Talar.

Annäherung an die Bibel durch Verfremdung
Literatur und Theologie in gelungener Symbiose


Zielgruppen:

und alle Literaturinteressierten

Rezension von Annegret Langenhorst in: "Katechetische Blätter" 1/2002, S. 74

Susanne Krahe. Rahels Rache. Biblische Provokationen.
Neukirchener Verlagshaus, Neukirchen-Vluyn, 2000, 159 Seiten, EUR 9,90, ISBN: 3-7975-0006-8.

Die evangelische Theologin Susanne Krahe hat sich bereits mit mehreren narrativen Annäherungen an biblische Texte, insbesondere mit ihrem Paulus-Roman "Das riskierte Ich", einen Namen gemacht. Ihr jüngster Band "Rahels Rache" widmet sich vor allem Verlierer-Figuren biblischer Geschichten: dem tragischen König Saul etwa oder der zu kurz gekommenen Schwester Martha. Aus der Perspektive dieser Unglücklichen liest Krahe die biblischen Überlieferungen gegen den Strich und schreibt in psychologisierender Ausgestaltung eines solchen Perspektivenwechsels echte "biblische Provokationen", die zum Nachlesen, Nachdenken oder Schreiben weiterer Alternativversionen reizen - etwa im Religionsunterricht, Bibelkreis oder Predigtgespräch.

Die drei Erzählungen zum Ersten Testament spiegeln Abraham aus der Perspektive des Isaak ("Dein Opfer, Vater"), Jakob aus der Sicht von Rebekka, Manasse und Ephraim ("Die Ferse") und König Saul in den Augen der "Hexe" von Endor. In dieser Erzählung "Gerücht über Saul" gelingt es der Autorin überzeugend, neben der Figurenperspektive auch die Textwerdung der biblischen Saul-Überlieferung nachzuzeichnen (41: "Die Episoden sind es, die im Volksohr hängen bleiben. Die Gerüchte.") und in der tragischen Figur des Friedenssuchers Saul behutsame Parallelen zur gegenwärtigen Situation Israels anklingen zu lassen.

Die Mehrheit der Erzählungen kreisen um neutestamentliche Figuren, die sie entweder in die Gegenwart transformieren (die Ehebrecherin in "Der letzte Stein", den verlorenen Sohn in "Die klassische Geschichte", Martha und Maria, den blinden Bartimäus und die Schuldknechte) oder aber im neutestamentlichen Kontext verfremdet ausleuchten. Ihre profunde Kenntnis paulinischer Briefliteratur bringt die gelernte Exegetin Susanne Krahe geschickt in der Erzählung "Prisca. Eine paulinische Eskapade" ein, die eine provokante Interpretation des Hoheliedes der Liebe in 1 Kor 13 anbietet: Die Erzählerin Prisca fühlt sich mit diesen ungewohnt poetischen Worten des eigenwilligen Paulus durchaus selbst platonisch geliebt ...

Die Autorin will provozieren im besten Sinne, Plattitüden hat sie freilich nicht nötig. So liest sich auch die Konstruktion der Titelerzählung "Rahels Rache" ungewöhnlich: Rahels kleiner Junge war in Bethlehem von den Henkern des Herodes in ihren Armen ermordet worden. Nach dreißig Jahren nimmt sie an dem gehassten Überlebenden von damals, dem angeblichen Messias, Rache ... Mit der letzten Erzählung "Der Talar" schließlich schleicht sich noch ein nicht biblischer Provokateur ein, der an seinem Pfarrerberuf zweifelt.

Annegret Langenhorst

Ein Textauszug:

Jericho

Ich bin der Blinde von Jericho, ein blinder Bettler wie eh und je. Ich hocke am Straßenrand der Oase und horche den Schritten der Leute nach, die mich hinter sich lassen wollen. Auf ihrem Weg nach Jerusalem kaufen sie Obst und Gemüse und leisten sich manchmal eine milde Gabe für meinen Bettelkorb. Bevor sie hinaufpilgern, dorthin, wo manchmal noch Schnee liegt, tummeln sie sich noch ein bißchen in Jerichos Sonne.

Bartimäus heiße ich. Nach meinem Vater. Hier in der Oase kennen mich alle: den Bettler, dem eine Granate das halbe Gesicht weggerissen hat. Besonders die Touristen haben Mitleid mit dem Opfer des Attentats, mit meinen ausgelöschten Augen. Zwar schauen sie regelmäßig an den Narben vorbei auf die Brille, aber ihr Mitleid zahlt sich in klingender, scheppernder, metallisch klirrender, manchmal über die Straße rollender Münze aus. Hemdsärmel streifen mich an der Schulter, wenn sie mir Almosen in den Korb werfen, immer von oben herab. Die Temperatur dieser Hände verrät mir den Grad ihres Bedauerns. Klick macht es, klick. Japanische Kameras konservieren meinen elenden Anblick. Wer schon nichts sehen kann, soll wenigstens betrachtet werden. Ich mache mich gut im Panoptikum, ich spiele eine wichtige Statistenrolle.

Vor dieser Kulisse hat Jesus nichts zu suchen, ich weiß. Jesus gehört nicht in die Geschichte der Bombenattentate und des geteilten Jerusalems. Die Wege zwischen Jericho und der Hauptstadt sind asphaltiert und schnell, viel zu gefährlich für Fußgänger. Und an den Mauern der Hauptstadt wird niemand mit Palmwedeln empfangen. Diese Szenen gehören zu den alten Filmen, die heute keiner mehr anschaut.

Trotzdem sitze und horche und warte ich auf seine Stimme. Ja, ich warte auf Jesu Stimme. Es ist eine ganz unsinnige Hoffnung; bloß weil ich blind bin und Bartimäus heiße, Bartimäus wie mein Vater und wie der Vater meines Vaters. Die Zeiten der Wunder sind vorbei, sagen die Leute, und wie würden sie sich aufregen, wenn ich plötzlich unter meinem Mantel hervorkriechen und nach dem Sohn Davids schreien würde, dem Sohn Davids, der sich meiner erbarmen möge, erbarmen!

Halt den Mund, Bartimäus. Oh, meine Fantasie erfindet schon ihre Proteste. Halt die Klappe, Schreihals, die Wunderheiler haben jede Menge voll zu tun, die berühmten Augenchirurgen, Starstecher und Hornhaut-Transplanteure haben auf Jahre hin keine Operationstermine mehr frei. Zu viele Splitter in zu vielen zerbombten Augäpfeln. Zu viele Balken vor den großen, teuren Kliniken. Zu viele Bretter vor ihrem und vor deinem Kopf, Bartimäus. Ach, halt den viel zu großen, viel zu anspruchsvollen Mund.

Klick, sagt es wieder. Und eine Münze rollt in den Korb. Ich greife in den klappernden Haufen und schätze meine heutige Ausbeute ab. Wie immer kommt zuviel zusammen, um zu verhungern. Wie immer muß ich zufrieden sein. Lieber wäre ich Masseur, Telefonist oder EDV-Fachmann, als zu betteln. Heutzutage gibt es ja Möglichkeiten für uns Blinde. Aber das Betteln, das Warten hat mich geduldig gemacht, hat mich Beharrlichkeit gelehrt. Ich bleibe dabei, allem Augenschein zum Trotz: Davids Sohn wird kommen. Davon bringt kein Realo mich mehr ab.

Sobald ich den Druck seiner Sandalen unter meinen Hüften vibrieren spüre, stimme ich mein Geschrei an. Erbarme dich, erbarme dich meiner! Das kann er unmöglich überhören. Und das hört er auch, über das Abwinken der Leute hinweg. Und er ruft Bartimäus zu sich. Und Bartimäus wirft den viel zu engen, viel zu warmen Mantel von der Schulter. Und Bartimäus wankt auf seine Stimme zu, tappsig und schwankend und mit weit vorgestreckten Armen. Bartimäus ohne den Blindenstab. Bartimäus ohne Krücke.

Jetzt steht er mir gegenüber, ein balsamisch duftender, mittelgroßer Herr mit minzenem Atem. Er fragt mich: Was soll ich dir tun?

Und Bartimäus streckt die Hand nach der Rechten des Meisters aus, um ihre Temperatur zu schätzen. Und er packt die glühende Faust und schmuggelt die eigenen Finger in die Mulde. Und Bartimäus fühlt sich für Sekunden geborgen. Und spricht: Daß du mich führen lernst und neben mir gehst, um mir die Stolpersteine anzusagen. Das will ich, dass du mir tust. Dass du mich neben dir atmen und tasten läßt und auf mich wartest, wenn ich langsam bin. Und das wäre alles. Denn die Zeit der Wunder ist vorbei, und in Jerusalem warten die Henker.

Klick, macht es wieder. Ein Foto, ein Almosen für meinen klingenden Korb. Ich zähle mit schweißigen Fingern die Münzen und finde ihn auf Anhieb, den maserungslosen Hosenknopf.

Aus: Rahels Rache. Biblische Provokationen, Neukirchen 2000, erscheint im September.

(Auszug © Neukirchener Verlagshaus, mit freundlicher Genehmigung des Verlages)



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