Jericho
Ich bin der Blinde von Jericho, ein blinder Bettler wie eh und je. Ich hocke am Straßenrand der Oase und horche den Schritten der Leute nach, die mich hinter sich lassen wollen. Auf ihrem Weg nach Jerusalem kaufen sie Obst und Gemüse und leisten sich manchmal eine milde Gabe für meinen Bettelkorb. Bevor sie hinaufpilgern, dorthin, wo manchmal noch Schnee liegt, tummeln sie sich noch ein bißchen in Jerichos Sonne.
Bartimäus heiße ich. Nach meinem Vater. Hier in der Oase kennen mich alle: den Bettler, dem eine Granate das halbe Gesicht weggerissen hat. Besonders die Touristen haben Mitleid mit dem Opfer des Attentats, mit meinen ausgelöschten Augen. Zwar schauen sie regelmäßig an den Narben vorbei auf die Brille, aber ihr Mitleid zahlt sich in klingender, scheppernder, metallisch klirrender, manchmal über die Straße rollender Münze aus. Hemdsärmel streifen mich an der Schulter, wenn sie mir Almosen in den Korb werfen, immer von oben herab. Die Temperatur dieser Hände verrät mir den Grad ihres Bedauerns. Klick macht es, klick. Japanische Kameras konservieren meinen elenden Anblick. Wer schon nichts sehen kann, soll wenigstens betrachtet werden. Ich mache mich gut im Panoptikum, ich spiele eine wichtige Statistenrolle.
Vor dieser Kulisse hat Jesus nichts zu suchen, ich weiß. Jesus gehört nicht in die Geschichte der Bombenattentate und des geteilten Jerusalems. Die Wege zwischen Jericho und der Hauptstadt sind asphaltiert und schnell, viel zu gefährlich für Fußgänger. Und an den Mauern der Hauptstadt wird niemand mit Palmwedeln empfangen. Diese Szenen gehören zu den alten Filmen, die heute keiner mehr anschaut.
Trotzdem sitze und horche und warte ich auf seine Stimme. Ja, ich warte auf Jesu Stimme. Es ist eine ganz unsinnige Hoffnung; bloß weil ich blind bin und Bartimäus heiße, Bartimäus wie mein Vater und wie der Vater meines Vaters. Die Zeiten der Wunder sind vorbei, sagen die Leute, und wie würden sie sich aufregen, wenn ich plötzlich unter meinem Mantel hervorkriechen und nach dem Sohn Davids schreien würde, dem Sohn Davids, der sich meiner erbarmen möge, erbarmen!
Halt den Mund, Bartimäus. Oh, meine Fantasie erfindet schon ihre Proteste. Halt die Klappe, Schreihals, die Wunderheiler haben jede Menge voll zu tun, die berühmten Augenchirurgen, Starstecher und Hornhaut-Transplanteure haben auf Jahre hin keine Operationstermine mehr frei. Zu viele Splitter in zu vielen zerbombten Augäpfeln. Zu viele Balken vor den großen, teuren Kliniken. Zu viele Bretter vor ihrem und vor deinem Kopf, Bartimäus. Ach, halt den viel zu großen, viel zu anspruchsvollen Mund.
Klick, sagt es wieder. Und eine Münze rollt in den Korb. Ich greife in den klappernden Haufen und schätze meine heutige Ausbeute ab. Wie immer kommt zuviel zusammen, um zu verhungern. Wie immer muß ich zufrieden sein. Lieber wäre ich Masseur, Telefonist oder EDV-Fachmann, als zu betteln. Heutzutage gibt es ja Möglichkeiten für uns Blinde. Aber das Betteln, das Warten hat mich geduldig gemacht, hat mich Beharrlichkeit gelehrt. Ich bleibe dabei, allem Augenschein zum Trotz: Davids Sohn wird kommen. Davon bringt kein Realo mich mehr ab.
Sobald ich den Druck seiner Sandalen unter meinen Hüften vibrieren spüre, stimme ich mein Geschrei an. Erbarme dich, erbarme dich meiner! Das kann er unmöglich überhören. Und das hört er auch, über das Abwinken der Leute hinweg. Und er ruft Bartimäus zu sich. Und Bartimäus wirft den viel zu engen, viel zu warmen Mantel von der Schulter. Und Bartimäus wankt auf seine Stimme zu, tappsig und schwankend und mit weit vorgestreckten Armen. Bartimäus ohne den Blindenstab. Bartimäus ohne Krücke.
Jetzt steht er mir gegenüber, ein balsamisch duftender, mittelgroßer Herr mit minzenem Atem. Er fragt mich: Was soll ich dir tun?
Und Bartimäus streckt die Hand nach der Rechten des Meisters aus, um ihre Temperatur zu schätzen. Und er packt die glühende Faust und schmuggelt die eigenen Finger in die Mulde. Und Bartimäus fühlt sich für Sekunden geborgen. Und spricht: Daß du mich führen lernst und neben mir gehst, um mir die Stolpersteine anzusagen. Das will ich, dass du mir tust. Dass du mich neben dir atmen und tasten läßt und auf mich wartest, wenn ich langsam bin. Und das wäre alles. Denn die Zeit der Wunder ist vorbei, und in Jerusalem warten die Henker.
Klick, macht es wieder. Ein Foto, ein Almosen für meinen klingenden Korb. Ich zähle mit schweißigen Fingern die Münzen und finde ihn auf Anhieb, den maserungslosen Hosenknopf.
Aus: Rahels Rache. Biblische Provokationen, Neukirchen 2000, erscheint im September.
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